Der Bücherwurm.

546 Wörter
13 Oktober 2001
Stuttgarter Zeitung
6
Deutsch
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Ein Unverbesserlicher

Es gibt erschreckende Zahlen über das Leseverhalten der Deutschen. Ein Drittel der Bevölkerung liest gar nicht. Mehr als die Hälfte aller Kinder geht nicht mehr als einmal pro Jahr in die Bücherei, Jugendliche verbringen weniger als eine halbe Stunde pro Tag mit Lesen. Diese Zahlen sind jedoch umstritten. Denn viele S tudien behaupten, das Leseverhalten habe sich in den vergangenen 50 Jahren kaum verändert.

Den unverbesserlichen Leser jedoch schert all dies nicht. Ihn bekümmert eine ganz andere Zahl. Eine entsetzliche Zahl. Die Zahl 5000. Das ist die Zahl der Bücher, die ein durchschnittlicher Dauerleser im Laufe seines Lebens verschlingen kann. Davon zu erfahren kommt der Vertreibung aus dem Paradies gleich. Es gibt ein Leben vor der Kenntnis dieser Zahl und eines danach.

Das Leben davor war wunderbar in seiner zü gellosen Bibliophilie. Da wurden stapelweise Verlagsprospekte und Literaturbeilagen durchgesehen. Es wurde mit unterschiedlichen Stiften je nach Dringlichkeit des Erwerbs angestrichen, ausgeschnitten und schließlich gekauft. Was für eine Wonne, dann zu Hause vor den Stapeln der ungelesenen Neuerwerbungen zu sitzen und sich all die bevorstehenden Freuden der Lektüre auszumalen! Die Spannung, die Erregung, die Ruhe, den Erkenntnisgewinn, das Kennenlernen bisher ungeahnter Gefühle und Gedanken. Dazu das Betast en der Umschlags und des Buchrückens, das Schnuppern an den Seiten. Welch ein Glück! Die Fülle der jährlich erscheinenden Bücher schien der Garant dafür zu sein, dass das Leben und Lesen nie aufhören wird, dass es unentwegt Länder, Autoren, Epochen zu entdecken gibt.

Doch dann irgendwann tritt der Mensch in das Leben des Lesers, der ihm sagt: "5000." Diese Botschaft ist schrecklich, steht sie doch in krassem Gegensatz zu dem, was Lesen bedeutet. Lesen ist nicht Beschränkung und Bescheidung, sondern Fre iheit und Grenzenlosigkeit, ist das Überschreiten des Horizonts, nicht sein Abmessen. Welcher Leser aus Leidenschaft überlegt sich denn, ob das Buch vielleicht zu dick ist, das er da gerade zu erstehen erwägt, ob es ihm zu viele Abende raubt. Er freut sich vielmehr darauf, viele Abende mit diesem Autor, diesem Buch zusammensein zu können. Eine endlose Strecke von kostbaren stillen Stunden steht bevor. Doch auf einmal machen sich ganz andere Gedanken breit: Lohnt es sich denn, diesen 600-Seiten-Roman zu kauf en? Soll man nicht lieber zwei kleine Bände mit Erzählungen erwerben? Soll man die kleine 20-bändige Goetheausgabe erstehen oder doch die 50-bändige? Soll man lieber Eichendorff lesen und Flaubert oder Walser oder Houellebecq? Der Leser hasst sich für diese Gedanken, will er doch prinzipiell alles bis zur Neige lesen, das Neue wie das Alte, den deutschen Autor ebenso wie französische.

Dennoch ist es nun vorbei mit dem sorglosen Bücherkauf. Denn auch wenn es immer mal wieder gelingt, jene Horrorzahl zu ve rgessen, und man sinnlos all jene Bücher einkauft, nach denen es einen gelüstet, dann schleicht sich doch zu Hause beim Anblick des neuen Stapels auf dem Fußboden - denn nur die gelesenen Bücher dürfen ins Regal - der Gedanke ins Hirn, ob das denn alles hat sein müssen. Ob man nicht kostbare Lesezeit vergeudet. Auch das Abschreiten der Bücherregalmeter macht von Jahr zu Jahr depressiver. Noch 2500 Bücher bis zum Tod, noch 2000. Nicht dass der Tod näher rückt, macht unglücklich, sondern dass das Ende aller L ektüren naht. Aber für echte Leser ist Lesen und Leben sowieso dasselbe.

Von Annette Pfeiffer.

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