Totalitäres Regime des Curriculums:
Wie man die Würde des Kunstwerks verletzt
Im so
genannten produktionsorientierten Unterricht gibt es die Übung, von einem
Gedicht einige Worte wegzulassen, die dann zu ergänzen sind. Das Gedicht
als Passepartout. Man muss nicht in die Schule Emil Staigers gegangen
sein, um zu bemerken, dass hier die Dignität des Kunstwerks verletzt wird.
Dichtung, die doch immer Weltentwurf ist, verkommt zum Spielmaterial für
den treffenden Ausdruck. Das kann Wolfgang Iser mit seiner Theorie der
Leerstellen jedenfalls nicht gemeint haben. Das Ganze - oder
Fragmentarische - des Kunstwerks endet, und das totalitäre Regime des
Curriculums beginnt. Stellen Sie sich Lehrer vor, die sich
jahrzehntelang in literaturfeindlichen curricularen Netzen verfangen haben
und die dann Karriere als Studiendirektoren, Bildungsreferenten und
Professoren an Studienseminaren machen. Und lassen Sie diese dann
verbindliche Abiturslektüren auswählen. Für die Klassiker ist das kein
Problem. In den Kultusministerien gibt es eine große Schublade mit einem
Herrn Goethe-Schiller-Brecht (1749 - 1956), aus der man sich wohlfeil
bedienen kann. Die Literatur ab 1970 scheint dagegen auf Gabriele Wohmann,
Jurek Becker und Ingeborg Drewitz beschränkt zu sein.
In
Baden-Württemberg hat es vor sieben Jahren mit Jurek Beckers Roman
"Bronsteins Kinder" angefangen. Darin geht es um jüdische Identität in der
DDR, um Vergangenheitsbewältigung und Adoleszenz. Es ist offenkundig, dass
dieses Buch nur des Inhalts wegen ausgewählt wurde. Und so erscheint es
wie eine Auftragsarbeit des Kultusministeriums: ein wichtiges Thema und
Aktualität; und alles verpackt in einer leicht verständlichen Sprache. Gut
gemeint, schlecht geschrieben. Eine Eintagsfliege für Zehntausende von
Schülern. Dazu - wie immer - ein türkisfarbenes Büchlein Lektürehilfe,
Tertiärliteratur für Niemehrleser. Und für die Lehrer ein
zweihundertseitiges Konvolut mit Stundeninterpretationen nach
Hausfrauenart.
Warum musste es denn "Bronsteins Kinder" sein und
nicht wenigstens der ungleich bessere Roman von Jurek Becker "Jakob der
Lügner"? Die Erklärung ist einfach. Nach Öffnung der Mauer war ein Sujet
angesagt, in dem die DDR vorkommt (und schlecht abschneidet). Der Tenor
bei den Regionaltagungen zu diesem Buch ging dahin, dass die
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Judentum in der DDR
nicht stattgefunden hat (wohl aber im Westen). Der Verdacht liegt nahe,
dass neben der Aktualität auch die politische Opportunität ein Kriterium
der Tauglichkeit fürs Abitur zu sein scheint.
Es ist absurd, ein Buch unterzuordnen unter irgendwelche
sekundäre Überlegungen. So als wäre der Literaturkanon dazu da,
geschichtlich-politische Konstellationen zu bedienen. Was Literatur als
Glut bereithält, kann doch nicht im Ernst in einen dünnen Fluss der
Information oder einer gerade passenden Legierung abgeleitet werden, so
wie aus einem Hochofen die Schlacke. Vernünftelei der
Pädagogen.
Es folgte Ingeborg Drewitz' Roman "Gestern
war Heute". Geliefert wird ein Abriss der deutschen Geschichte von 1923
bis 1978, gespiegelt in den Selbstverwirklichungsversuchen der Hauptfigur
Gabriele M.. Ich habe keinen Schüler und keinen Kollegen ausfindig machen
können, der mit diesem Buch eine Freude gehabt hätte. Stellen Sie sich
vor, Sie müssten die Protokolle des Evangelischen Kirchentags der letzten
45 Jahre lesen. Eine Nachfrage bei der Auswahlkommission hat ergeben, dass
die Wahl von "Gestern war Heute" hauptsächlich wegen der breiten Palette
an geschichtlichen Themen und der Eignung zum fächerverbindenden
Unterricht erfolgte. Aber die Schüler spüren das Gequält-Absichtsvolle des
Romans. Sie empfinden das Nachgeordnete und Gefälschte, das im Kleid des
Authentischen daherkommt.
Vom Versuch, Literatur zu
funktionalisieren
Im Jahr 2000 verfiel man auf
Hochhuts Erzählung "Eine Liebe in Deutschland" für berufliche Gymnasien.
Das Buch ist komplett unlesbar. Dafür sorgt schon der Wust von Dokumenten,
die in die sentimentale Beweisprosa eingeschleust sind. Bekanntlich hat
der Vorabdruck eines Teils der Dokumente im Spiegel zum Rücktritt des
Ministerpräsidenten Hans Filbinger geführt. Damals war ein alter Traum der
politischen Linken in Erfüllung gegangen: Literatur bewirke wirklich
etwas. Wenigstens punktuell könne die Kunst im Namen der Gerechtigkeit in
das Räderwerk der Politik eingreifen. Nur, mit Literatur hat diese
Erzählung nicht das Geringste zu tun. 25 Jahre, nachdem dieses Buch seinen
Dienst getan hatte, kam es wieder auf den Tisch. Es ist gespenstisch.
(Inzwischen hat die Landesregierung das Buch freilich wieder
zurückgezogen.)
Anfang der 70er Jahre gab es das Wort von der
gesellschaftlichen Relevanz der Literatur. In den seinerzeit beliebten
Diskussionen nach einer Autorenlesung konnte man sicher sein, dass ein
Student im zweiten Semester diese Keule hervorholte und den Autor mit der
Gretchenfrage nach der gesellschaftlichen Relevanz des eben Vorgelesenen
konfrontierte. Die Auswahlpraxis für die Pflichtaufgaben heute erscheint
wie ein domestizierter Wiedergänger dieser ebenso rebellischen wie
anmaßenden Geste, Literatur zu funktionalisieren. Wir haben uns die
Auswahlkommission für Hochhuts Buch als eine Versammlung furchtbarer
Funktionäre vorzustellen.
Literatur zu funktionalisieren, gleicht dem Versuch,
in ein Auto hineinzupacken, was nicht
hineingehört.
Weltfremde
Bildungstechnokraten
Die Auswahl solcher Bücher
zeigt, wie weltfremd die Bildungstechnokraten in ihrer Fixierung auf eine
diffuse Tatsächlichkeit inzwischen geworden sind. Wo wir doch nur am ganz
Fremden unser Ureigenstes erfahren können, weil es das noch nicht
entdeckte Eigene ist. Die Reproduktion des Belanglosen gibt den Schülern
das Gefühl, selber belanglos, normiert und - im besten Falle -
funktionstüchtig zu sein. Die Kunst ist in der Schule verpönt, weil die
buchhalterischen Mechanismen in ihr - so scheint es - nur platte
1:1-Übersetzungen zulassen. Schüler, sei eine Gleichung, auch du sollst
aufgehen! Das ist vielleicht der geheime Untergrund des gegängelten
Literaturunterrichts. Die neuen Parameter heißen Information,
Kommunikation, Präsentation. Wie recherchiere ich am besten (irgendetwas),
wie verkaufe ich am besten (irgendetwas). Nur das zählt. Und wer das
leistet, ist auf der Höhe der Zeit. Die neuen Lehrpläne, die gerade in
allen Bundesländern ausgetüftelt werden, sind auf der Höhe der Zeit. Darin
heißt es, für das Fach Deutsch wohlgemerkt: "Der Lehrplan verstärkt
Kompetenzen in der Beschaffung, Aufbereitung und Präsentation von
Information. Möglichkeiten der Strukturierung und Visualisierung sind in
diesem Zusammenhang für die Erschließung und Vermittlung eines
Gegenstandes gleichermaßen von Bedeutung." Und weiter: "Methoden des
Sammelns, Recherchieren in elektronischen Medien und Print-Medien,
Auswertung von Tabellen, Grafiken, Bildern, Nützen von Datenbanken,
Moderationsmethoden, medien- und computergestützte Präsentationsformen."
Dazu nur eine Frage: Sollen in der Schule kleine Manager, Medienexperten,
Schulungsleiter herangezüchtet werden, Monster der Normalität?
Was heute alles zur "Kultur" gehört:
Vom Museum bis zur Baustelle
Geschuldet ist dieser
Wandel wohl zuallererst dem derzeitigen Umbau der Literaturwissenschaft in
eine Kulturwissenschaft. Zur Kultur gehört seit Neuestem bekanntlich
alles, vom Museum bis zur Baustelle, vom Theaterabend bis zur täglichen
Seifenoper, von Phänomenen wie Streit- und Unternehmenskultur bis hin zu
gesellschaftlichen Ritualen und Lifestyles quer durch verschiedene
Schichten und Ethnien. Zugrunde liegt ein erweiterter Textbegriff. Der
Kulturwissenschaft ist es egal, ob ein literarischer Text, ein Film oder
Techno als Text analysiert wird. Alle Erscheinungen der Kultur werden als
Medien und Wissensspeicher angesehen, die für sich oder in
Querverbindungen untersucht werden können. In der neuesten Nummer der
Zeitschrift "Der Deutschunterricht" wird umstandslos festgestellt: "Das
Buch ist nicht mehr als ein Leit-, sondern als ein Folgemedium anzusehen."
Und: "So wäre kulturelle Kompetenz nicht mehr primär an der literarischen
Bildung zu messen; stattdessen müssen die Kompetenzen TV- und
PC-sozialisierter Kinder mit einbezogen werden." Literatur zu einem
bloßen Wissensspeicher ausbluten zu lassen, kommt einer Leugnung ihrer
eigentlichen Möglichkeiten gleich: Leser, und besonders junge Leser,
wollen sich identifizieren, mitleben, ihr Weltbild erweitern, Sprachlust
empfinden. Der Wissensspeicher ist ihnen egal.
Konrad-Adenauer-Stiftung:
Inhaltslose Sprechblasenrhetorik ersetzt sprachliche
Ausdrucksfähigkeit
In dieser Landschaft von
Veräußerlichung und Verflachung des literarischen Anspruchs hat sich im
Mai 2001 mit einer Bildungsoffensive der Konrad-Adenauer-Stiftung eine
gewichtige Stimme erhoben. Beklagt wird in dem Dossier eine "rapide
abnehmende sprachliche Ausdrucksfähigkeit, eine inhaltslose
Sprechblasenrhetorik, der Verlust gedanklicher Klarheit, die zunehmend auf
Laute und Gestik reduzierte Kommunikation." Und weiter: "Die konsequente
Übernahme von Anglizismen soll offenbar Globalität, Aktualität und damit
Autorität signalisieren. Doch diese Trends enthalten nicht selten eine
Primitivierung, die sich auch in der Gossensprache ausdrückt. Insofern
spiegelt die Sprache heute die innere Verfassung der Gesellschaft: Sie
lebt aus dem Tag, sie lebt in den Tag, und sie lebt vor allem in der
Selbstgewissheit derer, die nichts anderes mehr kennen."
Die
Bildungsoffensive fordert eine "Renaissance des Leistungsprinzips". Sie
verabschiedet auch ausdrücklich "die gescheiterte Vision der Gleichheit
aller Menschen durch Bildung". Mit der Feststellung: "Es kann nicht Ziel
der Schulpolitik sein, dass Bildungstechnokraten via Schule einen neuen
Menschen produzieren, der den Visionen einer New Economy gerecht wird",
hat die Bildungsoffensive allerdings den Nerv getroffen.
Und ich
frage über sie hinaus: Muss nicht Schule zur
Gesellschaft in der Tat einen Gegenort bilden, gerade damit die ihr
Anvertrauten in dieser Gesellschaft als Menschen bestehen
können? Und ist nicht die nachhaltige Beschäftigung mit den
Gegen- und Möglichkeitswelten der Literatur eine Einladung an den jungen
Menschen, sich gleichermaßen als selbstgewisses und fragiles Individuum
empfinden zu können, statt vom geschenkten Selbstwertgefühl, das der
Computer vermittelt, sich einlullen zu lassen?
Literaturunterricht nicht als
Selektionsinstrument missbrauchen
Und doch habe ich
einige Einwände gegen die Bildungsoffensive der Konrad-Adenauer-Stiftung:
Die Chancengleichheit ist eine große Errungenschaft der 70er Jahre. Wer
sie aufgibt, öffnet der Klassengesellschaft wieder Tür und Tor. Der
Literaturunterricht darf nicht als Selektionsinstrument für eine neue
Elite missbraucht werden. Die Orientierung primär
an Leistung, nicht aber an Bildung, ist abzulehnen. Eine von Bildung
abgekoppelte Leistung vermag den jungen Menschen nicht instand zu setzen,
sich seinem Leben zu stellen. Der Rückgriff auf den Begriff der
Kulturnation als Rahmen eines Kanons ist obsolet. Ein neuer
Sprachpurismus würde zu einer Lähmung der Schulkultur führen. Der Lehrer,
der als Sprachreiniger auftritt, kann leicht militant werden. Zumindest
entfernt er sich von der Lebenswelt der Jugendlichen und wird zum einsamen
Verkünder des richtigen Worts in der Wüste der Sprachniederung. Er wäre
nicht komisch wie Don Quichotte, sondern lächerlich. Es geht nicht darum,
gegen Jugendsprache anzukämpfen, sondern in der Schule eine ganz andere
Sprache anzubieten.
Der Literaturkanon, der dem Dossier
angegliedert ist, hört bei 1970 auf. Gibt es seit 30 Jahren keine guten
Bücher mehr?
Die Diagnose der Konrad-Adenauer-Stiftung ist in
vielem richtig. Aber mit dem eisernen Handschuh, den sie sich anzieht,
würde sie die Schule als lebendigen Ort vom Platz fegen. Mit restaurativen
Anwandlungen ist dem Niedergang von Sprache und Dichtung in der Schule
nicht zu begegnen.
In einem Brief an Welcker schreibt Wilhelm von
Humboldt 1829: Alles wahre Erkennen und Wissen muss doch am Ende drauf
hinausgehen, das zu erreichen, was der Mensch seinem Vermögen nach, das
Universum zu erfassen und selbst mit umzuschaffen, wirklich ist.
Es
kann also nicht darum gehen, blind Kenntnisse und Techniken anzuhäufen,
wenn diese Kenntnisse keinen Rückbezug zur Selbstwahrnehmung haben. Nur
durch das Erlebnis der Reflexion vermag der Mensch sich und die Welt zu
begreifen und sich in ihr also zurechtzufinden und sie zu verändern. An
Schiller schreibt Humboldt: "Die ganze Summe des Erkennens soll dazu
dienen, dem Geiste Objecte zu seiner Uebung und der Erhöhung seiner Kräfte
zu geben." In diesem Sinne ist Verstehen nicht ein passives Aufnehmen; es
ist vielmehr eine produktive Tätigkeit, die weit über bloße
Verstandeserkenntnis hinausgeht. Im Verstehen ergibt sich neben der
Bewegung auf den Gegenstand hin eine zweite, die auf den Verstehenden
zurückwirkt. Dieser erweitert im Verstehen seine Weltansicht und verändert
sich damit. Humboldt sieht erst in diesem Rückbezug den bildenden Akt.
Ihre höchste Gültigkeit erfährt Bildung im Begriff der Individualität, dem
Unaustauschbaren schlechthin. Sie ist zuerst verborgen und entfaltet sich
in der Begegnung mit der Umwelt.
Fassen wir in zwei Formeln zusammen: Ausbilden heißt Techniken vermitteln, in Funktion setzen.
Bilden heißt, zu sich selbst kommen zu lassen. Bildung ist der Urbegriff,
Leistung ist ein abgeleiteter Begriff.
Leistung,
losgelöst von Bildung, ist bloße Fertigkeit, Anwendungsregel, kurzes
Wissen: zwar stets überprüfbar, aber erzwungen und sinnlos. Leistung
dagegen, die aus der Bildung herausfließt, muss nur noch angefragt werden,
dann kommt sie von selbst. Wie das Bewässerungswasser, wenn der Schieber
aus dem Kanal gezogen wird. Es wäre ganz falsch, Schüler um ihre
Leistungsbereitschaft zu betrügen. Die Schule darf keine andere Aufgabe
haben, als die Individualität sich entfalten zu lassen. Aus diesem Grund
muss viel mehr echte Leistung eingefordert werden, als es bisher der Fall
ist.
Lassen wir den ganzen Methodenfirlefanz, die
Medienvernarrtheit und kognitiven Spielereien, die die Schule einnehmen,
einmal weg und dringen zu den Sachen selber vor. Literaturunterricht heißt
hören, sprechen, lesen, schreiben.
Die Stimme - und im folgenden
beziehe ich mich auf Anregungen unserer Schulpsychologin Bettina Noddings
- ist der Einbruch einer anderen Ordnung, die zwischen dem Ich und dem
Anderen, von dem sie kommt, einen Raum schafft, einen Zwischenraum. Am
Anfang steht die innere Leere, die vom Gehörten modelliert wird. Die
Stimme trägt nicht nur das Wort; sie ist auch gebietend und weisend. Sie
führt zu einer je eigenen und unvorhersehbaren Resonanz im leeren Körper
des Heranwachsenden. Findet diese Resonanz nicht ihrerseits Anklang, ist
die Subjektwerdung - oder, mit Humboldt zu sprechen, die Entfaltung der
Individualität - unterbrochen. Der Zwischenraum hat für das werdende
Subjekt immer auch mit einer notwendigen Angst zu tun. Und mit ihr beginnt
die Neuorientierung. Aber der Zwischenraum wird zu einem Schonraum, wenn
nur noch das geronnene Substrat der Stimme (und nicht mehr die Stimme
selbst) wahrgenommen wird. Immer wenn der Schüler das Gefühl hat, es
handle sich um überlebenswichtigen Lern- und Prüfungsstoff, hört er nicht
mehr die Stimme, sondern deren imperativen Gestus. Er kann sich dann weder
an die Tradition binden, noch kann er sich eine eigene Welt erschließen
und sich von den Erziehungsautoritäten lösen.
Die Stimme lässt sich
aber nur einschreiben durch große Texte der Literatur. Warum soll der
Lehrer nicht hin und wieder Vorleser sein, um der Stimme des Dichters
Gehör zu verschaffen? Warum nicht in einer Doppelstunde "Tonio Kröger"
vorlesen und in einer anderen "Romeo und Julia auf dem
Dorfe"?
Hören heißt auch die eigene Stimme
hören lassen. Jedes eigene Wort gibt ein Selbstgefühl und trägt zur
Subjektwerdung bei. Vorlesen, rezitieren und auswendig sagen lassen sind
fast vergessene Praktiken und könnten doch so glückhafte Momente von
Sprachaneignung sein.
Beim Lesen geht es darum,
Verbindungen zwischen dem schon Bekannten und Neuen im Text herzustellen,
dem Text die eigene Stimme zu leihen, sich etwas hinzuzudenken und
zwischen den Zeilen zu lesen und dem Unsichtbaren einen Raum zu geben. In
der Schule ist ja die Richtung des Interpretierens ganz falsch, denn dabei
muss man immer etwas aus dem Text herausholen, anstatt etwas
hinzuzudenken. Die ausschließliche Ausrichtung am Wissen des Meisters, als
dessen Stellvertreter der Lehrer auftritt, paralysiert die eigene
Aktivität. Sie vernichtet sogar den Glauben an sich selbst.
Ich
hätte zu Beginn nicht Peter Bichsel mit seinem Verdikt, dass Lesen in der
Schule unmöglich sei, zitiert, wüsste ich nicht, dass er immer schon ein
besessener Leser gewesen ist: "Ich habe als Zwölfjähriger den ganzen
Goethe gelesen, von vorn nach hinten. Wohl nicht viel verstanden von dem,
trotzdem, ich bin sehr glücklich über meinen Lesehunger als Zwölfjähriger.
Denn wenn ich heute Goethe lese, dann merke ich, der sitzt ganz tief in
mir drin. Ich habe ihn nicht verstanden, aber integriert." Es gibt
etwas Intensiveres als Verstehen, etwas, das aber allem Verstehen
vorausgehen muss, das Erleben. Humboldt nennt es das sinnliche Auffassen,
dem dann erst das geistige Anschauen folgt. In keiner Präambel der
Lehrpläne ist noch von dieser geistigen Anschauung die Rede. In der Praxis
ist aus dieser Art von Verstehen nur noch ein seelenloses "Abchecken"
geworden.
Fruchtbare Überforderung der Schüler:
Auch was man nicht versteht, kann man integrieren
Und
gibt es nicht etwas, was man eine fruchtbare Überforderung der Schüler
nennen könnte? Einen Keim legen. Irgend ein Ton verfängt sich, dessen
Resonanz erst Jahre später spürbar wird, ganz unmerklich wahrscheinlich;
und um so mehr vorhanden. Die Schüler sollten ruhig einige Briefe aus dem
Hyperion kennen lernen oder ein langes Gedicht wie Brod und Wein. Die
Begeisterung in der Sprache und die Widerständigkeit der Fügungen wird sie
bilden, auch wenn sie nicht "verstehen". Und dazu Martin Walsers Aufsatz
"Hölderlin auf dem Dachboden". Überhaupt viele Essays, die vom Erleben
ausgehen und in die Reflexion münden. Und durchaus genaue Stilanalysen
machen lassen, aber exemplarisch an den Gelenkstellen eines Textes und
nicht das ganze Buch zehn Wochen lang zerlegen. Dafür viel lesen, ein
halbes Dutzend Romane pro Schuljahr und ein Dutzend Erzählungen. Oder man
kann motivisch vorgehen und sich zum Beispiel der Figur des Außenseiters
in der Literatur annähern. Dabei wird schnell klar, dass fast alle Figuren
in der Literatur Außenseiter sind, vom Armen Spielmann über Josef K. bis
Eugen Rapp, von den linkischen Gesellen bei Markus Werner bis hin zu den
Verworfenen bei Hilbig oder Goldschmidt.
Auch ein literarisches Samenkorn, das auf einen trockenen
Boden des Nichtverstehens fällt,
kann zur rechten Zeit aufgehen und blühen.
Mit diesen Erfahrungen könnten die Schüler
sich freimachen vom Terror des Mainstreams und die Normierungen
aufbrechen, wie sie sich in den Markenklamotten und den Sprechblasen
zeigen. Und sie könnten selbst ihr Anders- und Besonderssein spüren und
zulassen. Denn junge Menschen lesen
identifikatorisch.
Die Schrift als ein Medium des
Abstrahierens von der konkreten Erfahrung ermöglicht einen Zugang zum
Universellen. Das Schreiben wiederum ermöglicht, selbst Teil des
Universellen zu werden - als Name, Einmaligkeit und Buchstabe. Eine
Setzung des Ich. Es ist deshalb verfehlt, täglich zwei Fragen zum Text zu
stellen, die schriftlich zu beantworten sind.
Ist es nicht
sinnvoller, stattdessen fast wöchentlich einen Hausaufsatz zu verlangen,
der eine würdige Positionierung des Schreibers zulässt? Einmal im Jahr
sollte eine Facharbeit über einen Roman angefertigt werden, wobei sich
jeder Schüler mit einem anderen Roman beschäftigt. Untereinander werden
die jungen Leute sich über ihre Lektüren austauschen. Das wirkt
überzeugender als jede Werbung von oben. Die Intimität und Dauer der
häuslichen Anstrengung ohne Internet und Sekundärliteratur kann im idealen
Fall einen Einschnitt in die Biografie bedeuten. Nicht gegängeltes,
sondern freies und ausführliches Schreiben wirkt an der Bildung des
Subjekts mit.
Ein Fazit: Die Schule liefert
sich mehr und mehr den billigen Erfordernissen der modernen
Kommunikationsgesellschaft aus. Damit ist die nächste Generation schlecht
für ihr eigenes Dasein gerüstet.
Was heißt bergauf
gehen? Peter Handke hat dafür ein Wort vorgeschlagen: Es formt. Unsere
Schüler tummeln sich in der Ebene, verlassen von denen, die sie auf den
Berg geleiten sollten.
Alfred Eckerle
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